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Auf den Spuren der polnischen Neuen Musik.
Eine Hommage an Józef Koffler (1896-1944)

Józef Koffler war als Komponist, Musikwissenschaftler und Musikpublizist eine der originellsten Gestalten der polnischen Neuen Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Geboren wurde er am 28. November 1896 im galizischen Stryj als uneheliches Kind der Familie des – zunächst – Gesellen und dann selbstständigen Kaufmannes Hersz Koffler und der Rebeka Schönfeld, Tochter des Inhabers einer Großhandlung für Getreideartikel. Seine frühe Jugend verbrachte er in Stryj, dessen jüdische Gemeinde auf der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert etwa 5.500 Einwohner zählte. In den Jahren 1910-14 besuchte er das klassische Gymnasium und nahm parallel Musikunterricht. 1914 legte er das Abitur ab und begann – auf Druck der Familie – an der Universität Wien Rechtswissenschaften zu studieren. Die wahre Berufung des jungen Musikers ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Zunächst lernte er parallel bei Herman Grädener Komposition. Nach einem Jahr gab er die Jurisprudenz auf zugunsten des Studiums der Musikwissenschaft bei Guido Adler, Robert Lach und Egon Wellesz an der Universität Wien. In dieser Zeit greifen die turbulenten Ereignisse des 20. Jahrhunderts erstmals in das Leben des jungen Komponisten ein. Er war gezwungen, sein Studium zu unterbrechen, um von 1916-18 in der österreichischen Armee und, nach Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit, in der polnischen Armee, zu dienen. 1920-24 setzte er sowohl sein privates Musikstudium bei Josef Bohuslav Förster und Ludwig Kaiser fort als auch das musikwissenschaftliche Studium, das er 1923 unter der Leitung von Adler mit dem Doktorat „Uber orchestrale Koloristik in den symphonischen Werken von Mendelssohn-Bartholdy" abschloss. Während seines Studiums war er bereits am Wiener Burgtheater als Korrepetitor und Chordirigent tätig. In dieser Zeit näherte er sich der Wiener Schule an und nahm mit Alban Berg Kontakt auf. Arnold Schönberg lernte er nie persönlich kennen, korrespondierte aber ab 1929 mit ihm.

1924 ging Koffler nach Lemberg (zu diesem Zeitpunkt polnisch Lwów, heute ukrainisch Lwiw), wo er Komposition und Musiktheorie am Konservatorium der Polnischen Musikgesellschaft (Konserwatorium Polskiego Towarzystwa Muzycznego) unterrichtete. Diese renommierte Einrichtung, die damals von dem Komponisten und Dirigenten Mieczyslaw Soltys und später – ab 1929 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges – von dessen Sohn Adam geleitet wurde, war zweifelsohne eine der besten in Polen. Bereits 1928 erhielt Koffler dort eine Professur für Harmonielehre und atonale Komposition (dies war der einzige Lehrstuhl dieser Art im polnischen Hochschulwesen). In Lemberg, einer Stadt, die offen war für künstlerische Neuheiten, propagierte er unermüdlich die Ideen der Zweiten Wiener Schule. Seine Werke wurden auf den Festivals der IGNM gespielt und erhielten von der internationalen Musikkritik viel Anerkennung. Neben Karol Szymanowski galt er als Vertreter der polnischen Avantgarde. 1931 wurde sein Streichtrio op. 10 (Oxford), 1933 seine 15 Variationen über eine Zwölftonreihe op. 9 (Amsterdam) und 1938 seine 3. Symphonie op. 21 (London) aufgeführt. In Polen aber, außer in Lemberg, stießen seine Werke auf eine Mauer von Unverständnis. Die ihm gegenüber besonders missgünstig eingestellte Warschauer Kritik (Piotr Rytel, Stefan Kisielewski) brandmarkten den „ersten polnischen Dodekaphonisten" bei jeder Gelegenheit. Neben seiner kompositorischen, pädagogischen und organisatorischen Arbeit wirkte Koffler in Lemberg als Kritiker, Rezensent und Musik-Publizist. In den Jahren 1926-39 war er Chefredakteur der Zeitschrift „Orkiestra", und 1936-37 auch von „Echo". Er war für die Redaktionen von „Muzyk Wojskowy", „Kwartalnik Muzyczny" und „Muzyka Wspólczesna" tätig. In diesen Zeitschriften publizierte er über die Grundlagen der Musiktheorie und Musikgeschichte und machte das Schaffen von zeitgenössischen Komponisten bekannt.

Während des Zweiten Weltkrieges (1939-44) wird der Komponist zum zweiten Mal in den Wirbel der dramatischen historischen Ereignisse gerissen. Einer Anordnung des Landratsamtes von Stryj vom 17. April 1939 Folge leistend, weist er seinen Austritt aus dem Judentum mit einer bereits am 17. November 1937 festgehaltenen protokollarischen Erklärung nach, so zu lesen in den Urkundenbüchern der jüdischen Gemeinde in Stryj. Bereits in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre erlahmt sein schöpferischer Elan aufgrund der erstarkenden antisemitischen Stimmungen in Europa. Nach der Annexion von Lemberg am 17. September 1939 durch die Rote Armee übernimmt der Komponist den Lehrstuhl für Komposition und die Position des Prorektors am Staatlichen Konservatorium Mykola Lysenko. Noch im selben Jahr wird er Sekretär des Komponistenverbandes der Sowjet-Ukraine und organisiert mehrere Konzerte in Lemberg und Kiev, die das Schaffen von Komponisten aus Lemberg präsentierten. Anfangs versucht er, seiner musikalischen Ästhetik aus der Vorkriegszeit treu zu bleiben, dann aber kritisierten 1940 auf einem Plenum des Organisationskomitees des Verbandes der Sowjetkomponisten die Funktionäre offiziell Kofflers Schaffen und brandmarkten es als „formalistisch". Wissarion Schebalin schrieb in „Sowjetskaja Musyka", dem offiziellen Organ des Verbandes: „Die allgemeine ideelle Richtung seines [Kofflers] Schaffens erscheint uns fragwürdig." Koffler übte Selbstkritik und distanzierte sich von der Idee der Wiener Moderne, die ihm bis dato so nah gewesen war. Womöglich war er sich über die falsch klingenden Töne seiner Selbstkritik im Klaren, als er schrieb: „Es wurde mir ermöglicht, als freier und glücklicher Mensch zu arbeiten und zu leben, es wurde mir ermöglicht, meine Pläne zu realisieren, wovon ich vorher nicht zu träumen gewagt habe." Doch die Selbstkritik brachte nicht viel. Nicht einmal die Tatsache, dass Koffler die Dodekaphonie aufgab und die „Freudige Ouvertüre" (1941) schrieb, ein Stück zu Ehren der Invasion Polens durch die Rote Armee, hielt die sowjetische Kritik von weiteren harten Angriffen ab. Akwiljew schrieb: „Die brillante Technik seiner Orchester-Stücke und die erlesene Instrumentierung zeugen lediglich von einer formalen Meisterhaftigkeit, die in geringem Maße die Saiten der menschlichen Seele erklingen lässt. […] Sie [die Ouvertüre] strahlt Kühle und Gelehrsamkeit aus."

Nach dem Einmarsch der Deutschen in Lemberg 1941 wurde der Komponist mit seiner Familie in das Ghetto in Wieliczka umgesiedelt. Dann versteckte er sich mit seiner Frau Rosa und seinem wenige Jahre alten Sohn Alan in Kroscienko Nizne in der Nähe von Krosno. Seine Schwägerin, Gizela Hercholorfer, erinnert sich: „Ich traf meinen Schwager 1942 zufällig in Krosno auf dem Bahnhof und von da an sahen wir uns in [dieser] Stadt häufiger. Im Jahr 1943 lebte er noch mit der Hoffnung, ,dass das nicht mehr lange dauert‘. Er wohnte in Kroscienko Nizne, wo sein Schüler lebte, ein Organist, den ich nach dem Krieg kennenlernte." Zu Beginn des Winters 1943 (nach der Auflösung des Gettos) ziehen die Kofflers nach Kroscienko und wohnen in einem Haus, das dem erwähnten Organisten der lokalen Gemeinde gehört, der vor dem Krieg Student am Konservatorium der Pommerschen Musikgesellschaft (PTM) gewesen war. Nach dem Winter ziehen sie an den Rand von Kroscienko in ein anderes Haus, in dem sie ein Zimmer bei einer Familie belegen. An einem Frühlingsmorgen 1944 fährt ein Auto mit zwei Zivilisten und zwei Uniformierten (Gestapo und Militärpolizei) vor. Sie nehmen die Kofflers an einen nicht bekannten Ort mit – in den Tod. Eine Einwohnerin von Kroscienko Wyzne, die Augenzeuge ihrer Verhaftung gewesen war, erinnert sich Jahre später an das tragische Ereignis: „Ich erinnere mich daran, wie die Gestapo sie holen kam, angeführt von dem ältesten, er hieß Bekier [Becker?], sie umstellten das Haus, fingen sie ein und führten sie wie Verbrecher ab; und sie gingen mit und weinten sehr, denn sie ahnten sicher, was sie erwartet. Was weiter mit ihnen geschehen ist, weiß ich nicht."

*

Kofflers Schaffen, ohnehin nicht allzu umfangreich, wurde durch Kriegsverluste stark dezimiert. Er komponierte zwischen den Jahren 1917 und 1941, sprich lediglich 24 Jahre lang, und kultivierte dabei verschiedene musikalische Gattungen und Stile. Zu seinem Vokalschaffen gehören die Zyklen Zwei Lieder auf Gedichte von Rainer Maria Rilke und Richard Dehmel, op. 1 (1917) und Quatre Poèmes auf Gedichte von Alfred de Musset, Paul Verlaine und Antoine-Vincent Arnault op. 22 (1935). Sein bekanntestes Werk ist die Kantate Milosc (Die Liebe)auf Texte aus dem 1. Brief des Paulus an die Korinther op. 14 (1931). Im Mai 2009 führte die Warschauer Kammeroper das einzige szenische Werk Kofflers auf: das Ballett-Oratorium Alles durch M.O.W. aus dem Jahr 1932. Das symphonische Schaffen bildet den umfangreichsten Teil von Kofflers Katalog. Frühe Werke wurden vom Komponisten selbst zerstört: die Ouvertüre Hanifa op. 2, die Orientalische Suite op. 3 (beide vor 1925) und Idyll [Sielanka] Capriccio pastorale für Kammerorchester op. 4 (1925). Das erste erhaltene Werk für Kammerorchester sind die 15 Variationen über eine Zwölftonreihe (15 variations d'après une suite de douze tons) op. 9 (1931), dann folgen das Klavierkonzert op. 13 (1932) und vier Symphonien: die 1. Symphonie – für Kammerorchester op. 11 (1930), die 2. Symphonie – für großes Orchester op. 17 (1933), die 3. Symphonie – für Blasinstrumente op. 21 (ca. 1935) und die 4. Symphonie – wieder für großes Orchester op. 26 (1940). Die Verluste unter den Werken dieser Gattung sind am bittersten, denn in den Kriegswirren gingen die Polnische Suite (Suita polska) für Kammerorchester op. 24 (1936), die Freudige Ouvertüre für Orchester op. 25 (ca. 1940) und Händeliana, 30 Variationen über eine Passacaglia von Händel (vor 1940) verloren.

Kofflers Kammermusik besteht aus gerade einmal drei erhaltenen Werken: aus dem Streichtrio op. 10 (1928), dem Capriccio für Violine und Klavier op. 18 (ca. 1936) und der letzten Komposition, den Ukrainische Skizzen (Ukrainski eskizy) für Streichquartett op. 27 (1941). Während des Krieges sind das Divertimento (Kleine Serenade) für Oboe, Klarinette und Fagott op. 16 (1931) und das Streichquartett op. 20 (1934) verloren gegangen. Über den Krieg gerettet werden konnte seine Klaviermusik (mit Ausnahme der Klaviersonate op. 19, 1935, die ebenfalls verschollen ist), d.h. die jugendliche, salonhafte Chanson Slave (vor 1918), die frühen folkloristischen 40 polnische Volksgesänge („40 Polskich piesni ludowych“) op. 6 (1925), dann folgen umfangreiche Zwölftonzyklen Musique de ballet op. 7 (1926), die Karol Szymanowski gewidmete Musique. Quasi una sonata op. 8 (1927), 15 Variations d’apres une suite de douze tons op. 9 (1927), die noch zu Lebzeiten des Komponisten recht bekannte Sonatina op. 12 (1930), die 20 Variations sur une valse de Johann Strauss op. 23 (1935), die Stefan Kisielewski vor dem Krieg verriss (dies war eine der bekanntesten Musik-Polemiken in der Zweiten Polnischen Republik) und auch Vier Stücke für Kinder (Czotyry dytjaczi piesy) (vor 1940). Ende der dreißiger Jahre hört Koffler im Zuge des Rückgangs der avantgardistischen Welle und der zunehmenden Faschisierung des kulturellen Lebens im Grunde auf zu komponieren. Sein Werkkatalog wurde damals um Transkriptionen bereichert: Kleine Suite (Mala suita)nach J. S. Bach (ca. 1937) und die von Agnieszka Duczmal und dem Amadeus-Kammerorchester bekannt gemachte, wunderbare Bearbeitung der Goldberg-Variationen von J. S. Bach für kleines Orchester (ca. 1938).

Was hat dazu geführt, dass Kofflers Schaffen trotz seines geringen Umfangs in der Zwischenkriegszeit ein so wichtiges Kapitel bildet? Welche Eigenschaften seines Schaffens führen dazu, dass er – neben Karol Szymanowski – als einer der herausragenden polnischen Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt? Aus Sicht der Ästhetik der Neuen Musik, der Geschichte des Neoklassizismus und der Rezeption des sozialistischen Realismus ist Koffler für die polnische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Figur. Aus Sicht der europäischen Geschichte der Moderne gehört er – neben Karol Rathaus, Hanns Eisler, Erwin Schulhoff und Wladimir Vogel u.a. – zu der Gruppe von Komponisten, die die musikalischen Ideen von Arnold Schönberg in verschiedene Richtungen weiterentwickelten. Die erste Etappe von Kofflers Schaffen (1917-27) war die Herausbildung seines individuellen Stils, für den der Übergang von der Ästhetik des musikalischen Modernismus zur Zwölftonmusik charakteristisch war. In einer seiner ersten erhaltenen Kompositionen (40 polnische Volksgesänge), die im Stil der für die damalige Zeit populären national-folkloristischen Strömung gehalten ist, lassen sich einige moderne kompositorische Stilmittel beobachten (Modalität, Bitonalität, tonale Zentren im Kontext atonaler Harmonik wie bei Berg). In seinen ersten neoklassizistischen Werken aus den Jahren 1926-27 (Musique de ballet, Musique. Quasi una sonata) bedient sich der Komponist auf konsequente Weise der Zwölftontechnik, weshalb er zu den Pionieren der Dodekaphonie in Europa zählt. Die zweite, reife Phase seines Schaffens von 1928 bis 1940 lässt sich in zwei Abschnitte gliedern. Bis 1935 ist Koffler der Zwölftontechnik treu, knüpft aber stilistisch an die zu dieser Zeit entstehenden Muster der französischen Spielart des Neoklassizismus an. Einer Reihe der in dieser Periode entstandenen Werke legt der Komponist historische stilistisch-formale Modelle zugrunde (das Capriccio geht auf virtuose Capricci für Violine aus der Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert zurück, die Sonatine auf das von Clementi erarbeitete Modell, die 2. Symphonie auf die klassische Sinfonie und das Klavierkonzert auf frühromantische Virtuosenkonzerte). Ab 1935 knüpft Koffler stärker an die Hindemithschen Muster der Neuen Sachlichkeit an, in der die Rolle des stilistischen Modells schwächer wird, und die der kontrapunktischen Arbeit, der massiven Instrumentierung und der prozessualen thematischen Entwicklung an Bedeutung gewinnt (3. und 4. Symphonie). Der Charakter des letzten Wandels von Kofflers Stil hängt damit zusammen, dass der Komponist die Ästhetik des Sozialistischen Realismus adaptieren musste (1940-41). Bis Mitte 1940 unternahm Koffler, als er die Zwölftontechnik aufgab, noch Versuche, die Grundlagen seiner Klangästhetik aus der Vorkriegszeit weiterzuentwickeln, obwohl er sie mit „ideologisch positiven" musikalischen Programmen versah (Freudige Ouvertüre). Erst das Quartett Ukrainische Skizzen lässt sich gänzlich in die Ideologie des Sozialistischen Realismus einordnen. Koffler präsentiert darin eine rückblickende Version des Folklorismus, die auf der traditionellen Funktionsharmonik fußt.

Maciej Golab

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