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„Ein hartnäckiger Instinkt hat mir immer versichert, die Zeit für mein Werk werde kommen. Die Musik vergißt nicht die neuen Sprachen, die man ihr beibringt. Daher machte ich mir keine Sorgen um die Zukunft dieser Partituren. Sie konnten warten.“

Drei Jahre vor seinem Tod beantwortete Igor Markevitch in seiner Autobiographie Etre et avoir été mit diesen Worten wenigstens teilweise die große Frage, die seine Biografie zwangsläufig immer wieder aufwarf. Dennoch bleibt Ratlosigkeit: Warum beschloß eines der vielversprechendsten Genies der 1930er Jahre plötzlich, mit dem Komponieren aufzuhören und sich fortan nur noch der Dirigentenkarriere zu widmen? Letztere war sehr erfolgreich und führte Markevitch zu Ruhm und Wohlstand, aber das kann kaum als Erklärung ausreichen.

„Tot zwischen zwei Leben“ habe er sich 1942 während einer schweren Krankheit gefühlt – hier muß wohl der folgenschwere Entschluß gereift sein; die Eindrücke des Krieges, den er in Italien erlebte, taten ein übriges. Nach dieser Zeit schrieb Markevitch zwar noch einige wenige Werke, die jedoch alle Bearbeitungen eigenen oder fremden Materials sind und nicht an die verblüffende Originalität der „15 kreativen Jahre“, wie er sie selbst nannte, anknüpften. Dieses Œuvre, entstanden von seinen Teenagerjahren bis 1942, rückt erst langsam wieder in den Fokus der Öffentlichkeit; auch heute, kurz vor Markevitchs hundertstem Geburtstag und 28 Jahre nach seinem Tod, gibt es noch viel zu entdecken. Daran ist ihr Schöpfer übrigens teilweise selbst nicht ganz schuldlos: Als Dirigent bezeichnete er es als „unanständig“, seine eigenen Werke in die Konzertprogramme zu lancieren. Dennoch war er von ihrer Qualität überzeugt; in der Autobiographie führt er weiter aus: „Vor allem berührt mich der Glaube in den Menschen, der ihrem Entstehen zugrunde lag.“ Das ist gewiß nicht die einzige Qualität in Markevitchs Kompositionen, die prominente Kollegen so unterschiedlicher Couleur wie Nadia Boulanger, Luigi Dallapicolla oder Hans Werner Henze gleichermaßen begeisterten. Was also macht diese Musik so faszinierend?

Das Schlüsselwerk ist L’Envol d’Icare, der Flug des Ikarus, entstanden 1932. Markevitch selbst beschreibt, wie ihm Themen zu diesem als Ballettmusik geplanten Werk erschienen („eine Eingebung, die mich in flüchtigen Geschehnissen meines Lebens deren Sinngebung spüren ließ“) und ihn, teilweise im Opiumrausch, in ihren Bann zogen. Wie er später, nachdem er sich vom Drogenkonsum gelöst hatte, die Herrschaft über ihre Entwicklung gewann und schöpferische Kraft aus ihnen bezog. Ein zweiter, ebenso ungewöhnlicher Ansatz zur Deutung des Icare stammt ebenfalls vom Komponisten selbst: Er stellte fest, daß das menschliche Gehör bestimmte Akkorde und ihre Frequenzverhältnisse „nicht mit Genauigkeit wahrnimmt“, was ihn dazu führte, ein kompositorisches Korrektiv zu entwickeln. Das soll die Fehler des Gehörs ausgleichen und damit „die Schönheit des Tones wiederherstellen“. In der Praxis ist dieses Korrektiv eine Instrumentengruppe im Orchester, die um einen Viertelton höher oder tiefer gestimmt war als die Übrigen – mit dem überraschenden Ergebnis einer „magischen Richtigkeit“, wie Markevitch es ausdrückte.

Dieses Beispiel macht deutlich: hier war ein unabhängiger Geist am Werk, der aus seiner ganz eigenen Perspektive auf die musikalische Realität blickte und die Dinge konsequenter als andere zu Ende dachte. Neben den Vierteltönen gibt es im Icare auch polyrhythmische Strukturen, in anderen Werken außerdem Aleatorik (in der ursprünglich 1929 geplanten Ballettmusik L’Habit du Roi, deren Material später in der Cantate verwendet wurde) oder die Erweiterung des Klangspektrums des Klaviers (Variations, Fugue et Envoi sur un thème de Handel , 1941) – alles musikalische Neuerungen, die andere umgehend zur Gründung einer eigenen Schule veranlaßt hätten. Für Markevitch waren sie nur in einem Moment schlüssige Mittel, um seine Wahrheit und Schönheit darzustellen, die oft nicht mit der handfest-offensichtlichen und noch weniger mit der Hörerwartung übereinstimmt – wenig verwunderlich bei einem Komponisten, der von sich selbst sagte, ein surrealistischer Musiker gewesen zu sein, wenn es denn je einen gegeben habe.

© Thomas Jakobi, 2011

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