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Eine Einführung in Gubaidulinas Musik
von Gerard McBurney

Die Sowjetunion war ein Reich. Und wie alle Reiche bestand sie aus einer Vielfalt an unterschiedlichen Kulturen und Nationalitäten, die von zwei parallelen und miteinander verflochtenen Hegemonien mehr oder weniger (und oft unter großen Schwierigkeiten) zusammengehalten wurden: einer neueren sowjetischen Ideologie und Machtstruktur und einer älteren russischen Tradition sprachlicher, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Vorherrschaft über das gesamte Gebiet der nördlichen Hemisphäre von Osteuropa bis zum Japanischen Meer.

In den meisten Aspekten der sowjetischen Kultur spiegelten sich die Spannungen und Widersprüche eines solch paradoxen Panzers wider – und hier bildete auch die Musik keine Ausnahme, welche die ungewöhnlich talentierte Generation sowjetischer Komponistinnen in der sogenannten Tauwetter-Periode der späten 1950er und frühen 1960 Jahre unter Chruschtschow schrieb. Diese jungen Künstlerinnen waren größtenteils miteinander bekannt und sprachen alle Russisch, studierten und trafen sich in Moskau, der Hauptstadt des Reiches, und verbrachten oft gemeinsame Arbeitsurlaube in den verschiedenen abgelegenen Rückzugsorten des Komponistenverbands zwischen Sowjet-Karelien im Norden und Georgien und Armenien im Süden.

Zugleich war jeder Komponistin in der eigenen, erstaunlich unterschiedlichen Welt verwurzelt, meist mit einer eigenen Sprache und eigenen Traditionen: Silwestrow und Hrabovsky in der Ukraine, Arvo Pärt in Estland, Kantscheli in Georgien, Mansurjan und Terterjan in Armenien, Felix Yanov-Yanovski in Usbekistan. Und selbst diejenigen von ihnen, die aus speziell russischen Kreisen kamen, waren noch über ein riesiges Gebiet verstreut und unterschiedlichen Obrigkeiten ergeben: Ustwolskaja, Tischtschenko, Slonimski und Knaifel, musikalisch alle sehr verschieden, standen für das im Norden gelegene Leningrad/Sankt Petersburg, mit seinem „Fenster nach Europa“ (Puschkin) und seiner besonderen Geschichte und Identität. Alfred Schnittke, in einer Provinzstadt an der Wolga geboren, war durch seine Eltern der deutschen und jüdischen Kultur stark verbunden. Denissow, der die meiste Zeit seines Lebens in Moskau verbrachte, war einerseits fasziniert von der Sprache, Literatur und Musik des weit entfernten Frankreichs, hielt andererseits aber auch an seinen Wurzeln in dem noch entfernteren Sibirien fest.

Wie ihre Zeitgenoss*innen war Gubaidulina ein Kind dieser Welt. Und wie bei ihnen hat auch Gubaidulinas Geschichte einen ganz eigenen Charakter, in dem sich dieselben halb-zentripetalen, halb-zentrifugalen Kräfte, die ihrer aller Leben und Musik formten, auf ähnliche Weise ganz klar offenbaren. Geboren und aufgewachsen ist sie in der Tatarischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, einer der vielen quasi-unabhängigen Republiken innerhalb der riesigen Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, selbst kaum Teil der größeren UdSSR (diese vielgestaltigen „autonomen Republiken“ wurden geschaffen, um die vielen Völker und Nationalitäten innerhalb des Reiches voneinander zu trennen und ihnen jeweils eine eigene „Heimat“ zu geben... – sie stellten also eine Form der politischen und ethnischen Überwachung dar). Gubaidulinas Vater gehörte als gebürtiger Wolgatatar zu den Einheimischen (der Name kommt aus dem Türkischen), aber ihre Mutter war slawischer Abstimmung und hatte Wurzeln unter anderem in Russland und Polen. In der Kleinstadt Tschistopol geboren, verbrachte Gubaidulina den Großteil ihrer Jugend in der tatarischen Hauptstadt Kasan, einer Großstadt an der Wolga, die durch die Belagerung von 1552 Berühmtheit erlangte, als Iwan der Schreckliche die Tataren besiegte und das gesamte Gebiet Russland unterwarf.

Gubaidulina sprach selbst oft davon, dass die verschiedenen Einflüsse ihrer Kindheit ihre künstlerische Persönlichkeit geprägt haben. Obwohl sie die tatarische Sprache, die ihr Vater nur mit seinem Freundeskreis sprach, niemals selbst erlernte, ist sie der festen Überzeugung, dass Elemente der allgegenwärtigen tatarischen Kultur und vor allem der Liebe ihres Vaters zur Stille sie beeindruckt und tief geprägt haben. Im Gegensatz dazu fühlte sie sich durch ihre Mutter russischen und eher westslawischen Traditionen verbunden. Darüber hinaus waren etliche ihrer viel geliebten Musiklehrer*innen in Kasan jüdischer Abstammung, weshalb sie den Kontakt zu jüdischen Traditionen für einen weiteren wichtigen Aspekt in ihrer Erziehung hält.

Auch ihre – in ihrem Lebenswerk sehr deutlich erkennbare – Faszination für die Religion zeigte sich bereits früh. Ihre Eltern, geprägt durch den „wissenschaftlichen Atheismus“ der frühen sowjetischen Jahre und der Kommunistischen Partei treu ergeben, lehnten Ideen dieser Art ab. Doch Gubaidulina war von klein auf fasziniert von ihrem Großvater väterlicherseits, den sie nur von einem Foto her kannte, der jedoch Mullah gewesen war (Tataren sind seit jeher Muslime). Als sie als kleines Kind zu Besuch bei Bekannten ihrer Eltern war und dort zum ersten Mal eine russisch-orthodoxe Ikone sah, rief sie aus, dass sie Gott erkannt habe.

Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung am Konservatorium von Kasan siedelte sie Ende der 1950er Jahre nach Moskau über und setzte ihr Studium am Tschaikowsky-Konservatorium fort, wo sie unter anderem Schülerin von Wissaron Schebalin war. Dort machte sie auch die einprägsame Bekanntschaft mit Schostakowitsch und knüpfte Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten ihrer eigenen Generation wie Schnittke und Denissow und den Kreisen um Andrei Wolkonski, der nach Aussage eines anderen jungen russischen Komponisten derselben Ära „der bunteste von uns allen war“.

Wolkonski, Komponist und Cembalist und etwas jünger als Gubaidulina, entstammte einer emigrierten Adelsfamilie, die in der Schweiz und in Frankreich lebte. Dank seiner Herkunft lernte er einflussreiche Persönlichkeiten wie Dinu Lipatti, Rachmaninow, Messiaen und Nadia Boulanger kennen, die ihn zum Teil auch unterrichteten, bevor seine Familie 1947 nach Moskau zog und er Student am Moskauer Konservatorium wurde. Für seine sowjetischen Zeitgenoss*innen wie Gubaidulina stellte Wolkonski somit eine direkte Verbindung zu einer exotischen westlichen Welt dar, mit der sie bisher noch nie in Berührung gekommen waren. Obendrein kannte sich Wolkonski mit der Musik vom Mittelalter bis zum Barock bestens aus und hatte Ende des Zweiten Weltkriegs wichtige Persönlichkeiten der aufkommenden Avantgarde persönlich kennengelernt.

Diese neuen Erfahrungen und Anregungen in der sowjetischen Hauptstadt ließen Gubaidulinas unbändigen Willen, die Musik zu ergründen und eine Musik zu schaffen, die ganz anders war als der sowjetische Mainstream um sie herum, noch größer werden. Damit sie stark und unabhängig genug wurde, dies zu erreichen, waren nach ihrer eigenen Aussage mehrere Aspekte von Belang.

Zunächst ihr Geschlecht. Während die Position der Frauen in der sowjetischen Gesellschaft von vielen verständlicherweise anders gesehen wird, besteht Gubaidulina streitlustig darauf, dass es für sie von Vorteil war, eine Frau zu sein. „Die Verantwortlichen, meistens Männer, haben mich nicht ernst genommen. Daher wurde ich nicht so stark bestraft oder kritisiert wie Schnittke und Denissow, weil ich ,nur eine Frau‘ war und man mich sogar als ,ziemlich verrückt‘ abtat. Dadurch konnte ich völlig frei so weitermachen, wie ich wollte.“

Dann der Film. Wie viele ihrer Zeitgenossinnen bestritt Gubaidulina ihren Lebensunterhalt viele Jahre lang durch Filmmusik: „Sechs Monate lang schreibe ich Filmmusik, dann nehme ich mir einen Monat frei, um mich zu erholen, und den Rest des Jahres schreibe ich meine eigene Musik.“ Wie einige ihrer Kolleginnen war auch sie der Ansicht, dass das notwendige schnelle Arbeiten ein gutes Training war und die eher geringe ideologische Überwachung der sowjetischen Filmmusik bedeutete, dass sie ihre Kompositionen für den Film nutzen konnte, um ihre „echte“ musikalische Sprache zu entwickeln. Interessanterweise war dies ihrer Meinung nach besonders dann der Fall, wenn sie Musik zu Zeichentrickfilmen für Kinder schrieb.

Und dann die reiche und waghalsige Welt der Interpretinnen neuer Musik in Moskau. Schon sehr früh knüpfte Gubaidulina enge Verbindungen zu dem Perkussionisten Mark Pekarsky, dem Cellisten Vladimir Tonkha und dem Akkordeonisten Friedrich Lips. Später, in den 1980er Jahren, arbeitete sie dann mit international renommierten Solistinnen wie Gidon Kremer, Oleg Kagan und Natalia Gutman und schließlich Mstislaw Rostropowitsch zusammen. All dies wirkte sich nachdrücklich auf ihren Kompositionsstil aus, und sie machte zudem nie einen Hehl daraus, dass jedes neue Werk das Ergebnis einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen ihr und der Interpretin bzw. dem Interpreten ist.
1975 gründete sie mit ihren Komponistenkollegen Viktor Suslin und Wjatscheslaw Artjomow die Improvisationsgruppe Astraea, mit der sie zwei Ziele verfolgten: Klänge exotischer Instrumente zu erkunden, die größtenteils aus dem östlichen Teil der Sowjetunion stammen, und eine größere, impulsive und instinktive Freiheit zu entdecken, vor allem um des Klangs selbst willen (was Gubaidulina selbst besonders wichtig war). Die akustischen und inneren Welten, die sich ihr durch die Arbeit mit Astraea erschlossen, wurden schnell zu einem wichtigen Element ihrer zu Papier gebrachten Kompositionen.

Und zuletzt der prägende Einfluss der theoretischen und philosophischen Gedanken ihres Freundes, Gefährten und späteren Ehemanns Pjotr Meschtschaninow (der 2006 starb). Dank Meschtschaninows fast mystischer Spekulationen im Bereich Rhythmus und Proportion konnte sie nach eigener Aussage ihren subtilen und äußerst charakteristischen Ansatz der musikalischen Struktur und Form entwickeln.
Gubaidulinas internationales Ansehen stieg Anfang der 1980er Jahre mit der Veröffentlichung ihres grandiosen ersten Violinkonzerts Offertorium, das sie für Gidon Kremer geschrieben hatte und das von dessen spektakulärer Spielweise inspiriert war. Dank des riesigen Erfolgs dieses Werks erhielt sie immer mehr Kompositionsaufträge von Orchestern und Solist*innen aus der ganzen Welt. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, mit dem gesellschaftliches Chaos, Gewalt und Instabilität einhergingen, zog Gubaidulina Anfang der 1990er Jahre in ein kleines Dorf bei Hamburg, in dem sie die ersehnte Isolation und Ruhe fand und bis heute lebt.

Dieser Umzug in den Westen löste bei der mittlerweile sehr erfahrenen Komponistin eine kreative Flut aus. In den letzten 30 Jahren hat sie für fast alle großen Orchester der Welt Werke von allerhöchstem Niveau geschrieben – Konzerte für Soloinstrumente von der Flöte über die japanische Koto bis hin zu einem Schlagwerk-Ensemble (sowie zwei weitere Violinkonzerte), symphonische Musik unterschiedlichster Art und mehrere großangelegte Chor- und Orchesterwerke wie die Johannes-Passion von 1999. Im Laufe der Jahre sind ihre religiösen, mystischen und endzeitlichen Überlegungen immer kühner und streitlustiger geworden, was sich vielleicht am deutlichsten in ihrem jüngsten, äußerst dunklen und brachialen Orchesterwerk Der Zorn Gottes (2019) zeigt. Außerdem hat sie etliche kammermusikalische Werke geschrieben, oft für ungewöhnliche Instrumentenkombinationen (ihrer Ansicht nach sollten viel mehr Werke für Instrumente ohne eigenes Repertoire komponiert werden als für Instrumente mit bereits bestehendem eigenen Repertoire). Fast der einzige musikpraktische Bereich, den sie umgangen hat, ist das Theater. „Der Oper fühle ich mich nicht nahe“, sagt sie selbst, aber vielleicht hat dies auch damit zu tun, dass ihre Musik an sich schon so ausdrucksstark-dramatisch ist, dass sie meint, ihr keine außermusikalischen Elemente mehr hinzufügen zu müssen.

Im Frühsommer 2022, als Sofia Gubaidulina zu ihrem eigenen Erstaunen amüsiert feststellte, „in meinen Neunzigern“ zu sein, blickte sie mit folgenden einfachen, aber entschlossenen Worten auf ihr langes Komponistinnenleben zurück:

„Ja... das ist wahrscheinlich richtig... Ich glaube, ich habe mein ganzes Leben lang versucht, eine Art Klangkathedrale zu erschaffen....“

© Gerard McBurney, 2022
(Komponist, Orchestrator, Schriftsteller, Sprecher, Erfinder, Rekonstrukteur verlorener und vergessener Werke von Schostakowitsch)
Deutsche Übersetzung: Konstanze Höhn

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