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Eine Einführung in die Musik Prokofieffs
von David Nice

Eine breite Öffentlichkeit wird bei Prokofieff immer an Peter und der Wolf, Romeo und Julia und den Marsch aus der Liebe zu den drei Orangen denken – und so soll es wohl auch sein; kein Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts hatte wie er die Fähigkeit, mühelos die richtige melodische Geste bzw. die passende instrumentale Hülle für eine bestimmte Gestalt oder visuelle Vorstellung zu finden. Er folgte seinem Genius und beschritt den fruchtbaren Pfad, der zur zweimaligen geglückten Zusammenarbeit mit Sergei Eisenstein führte, Rußlands bedeutendstem Filmemacher, sowie zu dem Aufgebot von mehr als sechzig Personen, die seine meisterhafte Opernauswahl von Szenen aus Tolstois Krieg und Frieden bevölkern. Die "Grundlinien" der Themenverarbeitung, die er in seiner Autobiographie von 1940 darlegt – die klassische, die modernistische, die motorische und die lyrische –, haben ihm, was die Bandbreite seiner Charakterisierung angeht, gewiß geholfen und sind voll ausgereift schon in den frühen Klavierstücken auszumachen, die er als Student am St. Petersburger Konservatorium komponiert hat.

Aber es gibt noch einen anderen Prokofieff, einen profunderen musikalischen Denker, dessen tiefergehende Vorzüge wir eben erst zu würdigen beginnen. Die neue Anerkennung stellt sich im Nachgang zu sowjetischen Bemühungen ein, seine dekadenten westlichen Schöpfungen anzuprangern, und zur Bereitschaft westlicher Kritiker, seine bemerkenswerten "offiziösen" Werke, die er nach 1936 im Anschluß an seine Rückkehr nach Rußland komponierte, als bloße kommunistische Propaganda einzuschätzen. Zweifellos trug das, was Prokofieff unter Stalin erlitten hat, dazu bei, die entschiedene Argumentation der sogenannten "Kriegssonaten" für Klavier (Nr. 6–8) und der Sinfonie Nr. 6 ebenso zu prägen wie die erlesene Schlichtheit seiner letzten Werke; daneben finden sich aber auch Störungen, so in Teilen seiner frühen Studie zum Thema Sucht nach Dostojewskis Der Spieler und im kunstvoll instrumentierten Hexenkessel seiner Oper Der feurige Engel, die in den zwanziger Jahren entstand. Das letztgenannte Werk hat mit der etwa im gleichen Zeitraum komponierten Sinfonie Nr. 2 eine Fülle thematischen Materials gemeinsam, das in einen bewußt modernen, im Zeitalter des Stahls verankerten Rahmen eingebettet ist. Nach dem scheinbaren Fehlschlag seines Unterfangens verwarf Prokofieff Konzepte wie Dichte und Komplexität; seine bewußte Herausbildung einer neuen, hehren Form der Melodik – die sich im Eröffnungsthema des Violinkonzerts Nr. 1 ankündigt und in Der verlorene Sohn, seinem letzten Ballett für Diaghilew, erstmals voll zum Ausdruck kommt – war jedoch kein Kompromiß; eher könnte man sie als seinen originellsten Beitrag zur Musik des 20. Jahrhunderts bezeichnen.

Er versuchte sich mit Erfolg an jeder Form – er führte die Mussorgskische Linie der natürlichen Deklamation in seinen Opern und späten Liedern fort, erwies sich als natürlicher Erbe Tchaikovskys mit seinen Balletten, zog auf eindrucksvolle Art expressiven Nutzen aus seiner eigenen Virtuosität als Pianist in den Konzerten und Solostücken, verbesserte stetig seine Orchestereffekte, angefangen mit der bewußt lautstarken Skytischen Suite bis hin zur ergreifenden und unterbewerteten Sinfonie Nr. 7. Seine höchst einfallsreichen Versuche, öffentlichkeitswirksame Kantaten für die Stalin-Ära zu schreiben (denen seinerzeit kein Erfolg beschieden war) und seine gewandte Bühnenmusik für eine Reihe abgebrochener Puschkin-Projekte, zwei Facetten seines Schaffens, die derzeit endlich zur Kenntnis genommen werden, vermitteln uns ein umfassenderes Bild seiner kreativen Palette. Schostakowitsch wird leicht als Chronist der sowjetischen Geschichte abgestempelt; Prokofieff mit seiner ausgeprägteren Gabe für originelle Melodien und seinem weniger festgelegten Umgang mit dem Orchester ist dagegen zuzutrauen, daß er weiterhin mehr Überraschungen für uns bereithält.

David Nice, 1995
(David Nice, dessen besonderes Interesse der russischen Musik gilt, ist Dozent und als Musikjournalist im Rundfunk sowie für die Zeitschriften Gramophone und BBC Music Magazine tätig; daneben hat er Werke über Richard Strauss und die Oper verfaßt.)

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