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Leokadia Kaschperowa (1872 – 1940)
Biografie

Bis vor kurzem beruhte Leokadia Kaschperowas Ruf ausschließlich auf Strawinskys Darstellung von ihr als Klavierlehrerin in seinen Memoiren (Chroniques de ma vie, 1935) sowie in späteren Kommentaren. Bemerkenswert ist, dass sich Strawinsky ein Jahrzehnt nach seiner Neuausrichtung zum neoklassischen Komponieren – ein Prozess, der von mehreren anspruchsvollen Kreationen für Klavier begleitet wurde – dankbar gegenüber Kaschperowa äußerte, weil sie ihm eine hervorragende pianistische Technik beigebracht und ihn mit einem Gefühl für das Métier ausgestattet habe. Hier drüfte sich Strawinsky auf die professionelle Verknüpfung von Komponieren und Klavierspielen bezogen haben, denn Kaschperowa war in dieser Hinsicht sein erstes Vorbild. Sie unterrichtete ihn zwei Jahre lang, von 1899 bis 1901. In dieser Zeit komponierte sie ihre Klavierkonzert und brachte es zur Uraufführung. Gleichzeitig war sie regelmäßig zu Gast in der Wohnung der Familie Strawinsky am Krjukowkanal.

Kaschperowa war in St. Petersburg zwei Jahrzehnte lang (ca. 1895 – 1916) eine angesehene Persönlichkeit. Sie gab Klavierrezitals, trat in Kammermusikreihen auf, veranstaltete dienstags regelmäßige Musikabende in ihrer Wohnung, ähnlich den berühmteren Mittwochsoiréen bei Rimski-Korsakow. 1907 unternahm sie Konzertreisen nach Berlin und London (letztgenannte Stadt zweimal). Ihre Musik war Konzertgängern in Russland und darüber hinaus gut bekannt. Doch die Revolution von 1917 bedeutete für ihr Leben eine schicksalhafte Wendung. Die gesellschaftlichen Unruhen, zwei Weltkriegen und der sich ständig ändernde Wind sowjetischer Kulturpolitik verdammten sie schließlich zu einer unbeachteten Fußnote der russischen Musikgeschichte. De facto gerieten ihre Person und ihre wunderbare Musik nach ihrem Tod 1940 völlig in Vergessenheit, selbst in Russland. Doch zeigt die jüngste Forschung, dass Kaschperowa es verdient, nicht nur als Strawinskys Klavierlehrerin, sondern als viel mehr erinnert zu werden: Sie war in erster Linie eine Komponistin und Pianistin von außergewöhnlichem Talent. Ihr Werkverzeichnis bezeugt eine sich über 50 Jahre erstreckende Kreativität. Mit ihrem Schaffen gebührt Kaschperowa ein Platz unter den ersten russischen Komponistinnen von internationalem Rang.

Leokadia Kaschperowa* wurde am 4. (16.) Mai 1872 im dörflichen Ljubim geboren, nicht weit von der alten Stadt Jaroslawl entfernt. Sie vollendete ihre Studien am St. Petersburger Konservatorium mit zwei Abschlüssen: 1893 als Absolventin von Anton Rubinsteins Elite-Klasse, inherhalb der sie einer Konzertkritik vom November 1895 im Mährischen Tagblatt, einer der deutschsprachigen Zeitungen St. Petersburgs, zufolge als „die Allerbegabteste“ beschrieben wurde und als Gewinnerin des prominenten Schröder-Klavierwettbewerbs hervorstach. Und erneut 1895, dann als Kompositionsstudentin Nikolai Solowjows. Alle ihre wichtigen Werke der nächsten zwanzig Jahre gelangten zur öffentlichen Uraufführung, und viele erschienen im Druck: eine Sinfonie, ein Klavierkonzert, Chorwerke, Klaviertrios, Violoncellosonaten, Klavier-Solowerke und Kunstlieder. 1916 wurde Kaschperowas Karriere von ihrer impulsiven und wirklich unpassend erscheinenden Eheschließung mit ihrem Schüler Sergej Andropow (ein bolschewistischer Revolutionär und enger Vertrauter Lenins) unterbrochen. Andropow bewerkstelligte ihrer beider Flucht aus Petrograd (St. Petersburg) in die relative Sicherheit bei seiner Familie im Kaukasus. Nach ihrer Rückkunft in Moskau 1920 wurde Kaschperowa gelegentlich eingeladen, die großen Sonaten von Glasunow und Balakirew, mit denen sie in St. Petersburg eng verbunden gewesen war, aufzuführen. Ihre eigene Musik war nicht gefragt. Dennoch ist belegt, dass Kaschperowa weiterhin komponierte. Eine Sammlung von Manuskripten aus dieser letzten Lebensphase liegt im Russischen Nationalen Musikmuseum in Moskau.

Als Pianistin war Kaschperowa für die vollständige Beherrschung der Tasten bekannt, und auch ihre feine Tongebung wurde weithin gewürdigt. Monika Hunnius erinnerte sich zwanzig Jahre nach ihrer Begegnung: „...immer, wenn sie spielt, klingt es, als ob jede von ihr berührte Note in genau diesem Moment geboren wird.“ Kaschperowas Kompositionen fanden in gleicher Weise Zuspruch, weil sie „eine ungewöhnliche Musikalität“ besaßen – so Wassily Jastrebzew 1906 zu Rimski-Korsakow. Die russische Musikzeitung Russkaya muzykal'naya gazeta lobte 1912, Kaschperowas „Talente als Komponistin sind eine äußerst willkommene Erscheinung im Musikleben St. Petersburgs“. Die britische Zeitschrift The Sunday Times (London, 1907) schrieb: „Frl. Kaschperowas Musik zeigt ein ausgeprägtes Talent – sehr attraktiv mit ihrem Melodienreichtum, ihrer Anmut und ihrer russisch-wechselvollen Stimmung.“ Nach einem Jahrhundert der Vernachlässigung wartet diese einst gefeierte, lange vergessene Komponistin auf ihre Wiederentdeckung.

(*Bei der Aussprache von KaschPERowa liegt die Betonung auf der zweiten Silbe.)

© Dr. Graham Griffiths
Herausgeber der Kaschperowa-Ausgabe, Boosey & Hawkes London

Juni 2020

Diese Biografie darf, unter Angabe des Verfassers, als Einführungstext oder zu Werbezwecken verwendet werden.

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