Dialogue: I and You
(Dialog: Ich und du: Konzert für Violine und Orchester Nr. 3) (2018)4(IV=picc).3.5(IV=Ebcl,V=bcl).4(IV=dbn)-4.4.ttrbn.btrbn.2(II=dbtuba)-perc(21):3timp/tgl/SD/TD/BD/2susp.cyms/gongs/bells/tam-t/glsp-2harps-cel-str(16.14.12.10.8)
Abbreviations (PDF)
Sikorski
„Den Namen dieses Werkes verdanke ich meiner Begeisterung bei der Lektüre des Buches 'Ich und Du' von Martin Buber. Er schreibt:
'Für den Menschen ist die Welt zweifach, entsprechend seiner zweifachen Natur der primären Worte, die er spricht. Die Grundwörter sind keine isolierten Wörter, sondern kombinierte Wörter. Das eine Primärwort ist die Kombination 'Ich - Du', das andere 'Ich - Es'. Der Mensch ist ein Wesen, das sich seines Platzes im Universum bewusst ist. Es ist ein Wesen, das danach strebt, sich der Welt zu nähern und sie zu erfahren. Aber wichtiger als alles andere ist, dass er sich der Beziehung zwischen sich und dieser Welt bewusst ist.
In jedem Akt unserer Berührung mit der Natur, den Menschen und den geistigen Wesenheiten sehen wir den Rand des ewigen Du, sind wir uns eines Hauchs des ewigen Du bewusst. Es gibt zwei metakosmische Hauptbewegungen im Weltaufbau: Ausdehnung und Anziehung, Streben nach Einheit - sie finden ihre menschliche Verwirklichung, ihre höhere geistige Form in dieser Beziehung: Ich - Du.'
Wenn ich solche Überlegungen lese, bin ich begeistert, dass all dies in direktem Zusammenhang mit der Kunst der Musik, mit dem Leben der klingenden Materie steht. Zweifaltigkeit: Das Streben nach Ausdehnung in die Unendlichkeit und andererseits der unerschütterliche Wunsch, sich um ein Zentrum zu konzentrieren und dieses zu fixieren. Die Zweigliedrigkeit des Verlangens der klingenden Substanz selbst und das Drama innerhalb der klingenden Formen. Das ist für mich offensichtlich. Glücklicherweise fielen all diese meine Überlegungen mit einer Initiative von zwei großen Musikern unserer Zeit, Vadim Repin und Andres Mustonen, zusammen - etwas gemeinsam für Violine und Orchester zu schaffen. Diese Initiative traf den heißesten Punkt aller Überlegungen zu Martin Bubers dialogischer Anthropologie. Einen Dialog zu schaffen. Ein Dialog zwischen dem 'Ich' des Solisten und dem 'Ich' des Dirigenten des Orchesters.
Musik ist eine solche Art von Kunst, in der rein abstrakte Wesenheiten ihr eigenes Lebensdrama zu erleben beginnen. Zweifaltigkeit. In diesem Fall handelt es sich um Intervallbeziehungen innerhalb von Akkord- und Melodiekonstruktionen. Der wichtigste Kontrast ist dabei die sich sukzessive ausdehnende oder zusammenziehende Konstruktion. Im Laufe der sieben Variationen (und nur in dieser Form ist das Werk aufgebaut) wird die Frage der Expansion oder Kontraktion unterschiedlich gelöst. Sie werden es hören.
Das Streben nach Ausdehnung der Intervalle im Verlauf der Melodie oder Akkordlinie oder im Gegenteil das Streben nach Kontraktion führen zu bestimmten Folgen und Lösungen (nicht meine eigenen Lösungen, wie ich es sehe, sondern Lösungen, die aus der klingenden Materie selbst kommen). Genau diese Folgen und Lösungen prägen die strukturierenden Momente der Form. Das werden Sie hören. Aber ich möchte, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit auf zwei Punkte lenken.
Der eine bereitet die zentrale Episode der Form vor. Der Solist erhebt sich in die höchste Lage auf der Skala der großen Septimen. Das akkordische Echo bildet den ausgedehntesten Klangraum in dieser stufenförmigen Passage. Und der zweite Moment, kurz vor der Coda.
Der Klangstrom strebt in die Mitte des orchestralen Diapasons. Und dort, in der Mitte, bildet er den maximal verdichteten Intervallraum.
Zweifaltigkeit. Das ist im Grunde die Grundfrage des Gesprächs zwischen dem „Ich“ des Solisten und dem „Ich“ des Dirigenten. Die Frage nach der Zweigliedrigkeit und der Dramatik, die sich aus diesem Konflikt ergibt. Die Frage: Was ist der Sinn dieser weltumfassenden Sehnsucht nach Ausdehnung ins Unendliche und der ebenso starken Anziehung zur Mitte, zur Mitte des Kreuzes der Beziehung Ich und Du.
Martin Buber: ‚Wir können über die metakosmische Urform dieser Zweifaltigkeit - die Trennung vom Ursprung und die Annäherung an den Ursprung - im Dunkeln rätseln. Aber unser Wissen um die Zweifaltigkeit verstummt vor dem Paradox des Urmysteriums‘.“
(Sofia Gubaidulina)
Vadim Repin / Gewandhausorchester Leipzig /
Andris Nelsons
Deutsche Grammophon DG 4861457